Kritische Gerontologie im Internet |
"Seniorenzeischriften"
Zum Leistungspotential von Zeitschriften für
Magisterarbeit, Ruhr-Universität Bochum, 1990.
Einführung
Nach dem Bundessozialhifegesetz gehört es zu den Aufgaben
der Träger der Sozialhilfe, "Altenhilfe" zu leisten,
die dazu beitragen soll, "Schwierigkeiten, die durch das
Alter entstehen, zu verhüten, zu überwinden oder zu
mildern und alten Menschen die Möglichkeit erhalten, am Leben
in der Gemeinschaft teilzunehmen".(BSHG, Par. 75)
In Umsetzung dieses Auftrages werden von den örtlichen Sozialämtern
und zum Teil auch von anderen Trägern der kommunalen Altenhilfe(1)
in vielen Städten der Bundesrepublik unter anderem Zeitschriften
herausgegeben, die sich speziell an ältere Menschen richten.
Die gemeinsamen Merkmale der Zeitschriften dieses Typus beschränken
sich weitgehend auf den Umstand, daß sie
als Instrumente der Altenarbeit ohne kommerzielles Interesse
herausgegeben
und durch eine Instanz aus dem Bereich der Altenhilfe (Sozialamt,
Wohlfahrtsorganisation) finanziert werden.(2)
die Zeitschriften kostenlos verteilt werden,
das Verbreitungsgebiet der Zeitschriften fast immer auf den
Zuständigkeitsbereich der örtlichen Träger der
Sozialhilfe begrenzt ist und damit maximal die Größe
der jeweiligen Landkreise bzw. der kreisfreien Städte umfaßt,
viele Zeitschriften von Redakteuren im Rentenalter erstellt
werden.
Die inhaltliche Ausrichtung der einzelnen Zeitschriften ist relativ
unterschiedlich. Typische Schwerpunkte bilden Probleme des Alterns,
Hinweise auf Angebote der Altenhilfe und Freizeitangebote insgesamt
sowie Informationen über politische Maßnahmen im Bereich
der Altenarbeit. Daneben erscheinen in vielen Zeitschriften aber
auch Beiträge über allgemeines kommunales Geschehen
sowie Unterhaltung unterschiedlichster Art (Gedichte, Kurzgeschichten,
Kreuzworträtsel, Witze etc.).
Um die Bedeutung dieser Zeitschriften näher zu erkunden,
habe ich 1989 mehrere Redaktionen und fast 100 'Adressaten' nach
ihrer Einschätzungen dieses neuen Genres gefragt.
Befunde
Die Erwartung, daß die befragten Adressaten typische,
spezifische Rezeptionsinteressen an eine Seniorenzeitschrift richten,
die in anderen Medien nicht oder nicht in ausreichendem Maße
zur Geltung kommen, hatte sich nicht bestätigt. Damit gewinnt
die Frage an Bedeutung, ob Seniorenzeitschriften für die
Mitglieder ihrer Zielgruppe einen Nutzen haben könnten, der
von diesen selbst so vielleicht nicht gesehen oder 'erkannt' wird.
Die meisten 'Seniorenredaktionen' sahen die wichtigste
Aufgabe der von ihnen erstellten Zeitschriften darin, das Interesse
älterer Menschen am gesellschaftlichen Leben im kommunalen
Bereich zu wecken oder zu stärken und Anstöße
zu kreativen Eigenaktivitäten zu vermitteln. Hinzu kommt der Anspruch, als
Sprachrohr für die Interessen und Perspektiven älterer Menschen zu dienen.
Dieser Anspruch und die umfassende
'geragogische' Zielsetzung führen zu einer Metaperspektive,
aus der ein (vermeintlich) objektiver Nutzen auch unabhängig
von den subjektiven Interessen der Zielgruppe wahrgenommen
werden kann. Sie entspricht der wohl etabliertesten Vorstellung
von 'Altenhilfe', die am neuen, 'positiven Altersbild' orientiert
ist und in besonders profilierter Weise von der Gerontologin und
früheren Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit
Ursula Lehr vertreten wird.
Als Orientierung für die praktische Bewertung von Seniorenzeitschriften
soll auf diese Zielvorstellungen etwas näher eingegangen
werden.
Nach Ursula Lehr läßt sich Altern als primär "soziales
Schicksal" charakterisieren, das vorwiegend durch das in
der Gesellschaft verbreitete negative Bild vom Alter bestimmt
ist und durch eine häufige Thematisierung von Not bei älteren
Menschen in den Massenmedien verstärkt wird (siehe z.B. Psychologie
des Alterns, 3.-6. Aufl., 300ff). Eine Zeitschrift, die, wie von
vielen Adressaten gefordert, vor allem Lebensrisiken thematisiert,
könnte aus dieser Perspektive möglicherweise ein effektives
Instrument der Hilfe für Einzelne darstellen, gleichzeitig
aber einer insgesamt schädlichen Stigmatisierung der älteren
Menschen als Problemgruppe Vorschub leisten.
Eine solche Gefahr wurde von den der Zielgruppe angehörenden
älteren Menschen offensichtlich nicht gesehen. Im Gegenteil:
Ein in einer Seniorenzeitschrift sichtbar-werdendes Bemühen
um Menschen in schwierigen Lebenssituationen wurde von vielen
Befragten als begrüßenswertes Zeichen bewertet, daß
die Betroffenen auf Hilfe vertrauen können (und nicht etwa
als "Friedhofsgemüse" alleine gelassen werden).
Für die befragten Redaktionen wog dagegen die Überlegung
schwerer, daß eine Zeitschrift, die sich explizit an Ältere
richtet und dabei vornehmlich Defizite thematisiert, eine assoziative
Verbindung von 'Alt-Sein' und 'Bedürftig-Sein' verstärken
könnte.
Das paßt zu Meinungen, die in der fachöffentlichen
Debatte vorherrschen. Danach ist die Verinnerlichung eines Altersbildes,
in dem 'Alt-Sein' mit Bedürftigkeit und Passivität stereotyp
verbunden ist, eines der bedeutendsten Hindernisse für ein
'erfolgreiches' Altern.
Als wichtige intervenierende Maßnahme im Bereich der Altenhilfe
fordert beispielsweise Ursula Lehr, Älteren "Anregungen
zur sportlichen Betätigung, zur Pflege geistigkultureller
Interessen, zur Weiterbildung und kreativen Tätigkeit"
zu vermitteln. Denn:
"Es bestehen bereits jetzt schon vielfältige
Bildungsmöglichkeiten für die ältere Generation,
die es auszubauen und zu erweitern gilt, und für die man
verstärktes Interesse wecken sollte. Für manch einen
mag sogar ein reguläres Universitätsstudium in Frage
kommen. Für andere bietet die 'Seniorenuniversität'
oder 'Universität für das dritte Lebensalter' (...)
eine neue Betätigung. Doch auch Bildungsreisen in ferne Länder,
das Erlernen einer neuen Sprache, das Aufnehmen von Wissen in
Volkshochschulkursen und Familienbildungsstätten, das Auffrischen
oder gar der Neuerwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten handwerklicher
oder künstlerischer Art können vielen Menschen das Gefühl
geben, endlich etwas zu tun, wofür während des bisherigen
Lebens (...) keine Gelegenheit bestand"(Von der neuen Kunst
des Älterwerdens. In: Aktion Gemeinsinn (Hg.): Das neue Alter.
1987).
Die von den befragten Redaktionen geäußerten 'geragogischen'
Zielvorstellungen fügen sich in dieses Konzept von Altenhilfe
nahtlos ein. Nur scheinbar wird dabei von einer an Defiziten orientierten
Altenarbeit Abschied genommen. Tatsächlich werden der Mehrheit
der älteren Menschen, die nicht arm, einsam oder hilfsbedürftig
sind, den Vorgaben des neuen Altersbildes aber auch nicht richtig
entsprechen, nach Maßstab eines wohl nicht zu unrecht als
bildungsbürgerlich zu charakterisierenden Lebensmusters handfeste
Defizite - etwa ein Mangel an 'geistigkultureller Aktivität'
- zugeschrieben. In der 'Psychologie des Alterns' liest sich das
z.B. so:
"Ein weiterer Punkt wäre die geistige Trägheit,
der geringere Gebrauch von Informationsmitteln und Bildungsgütern.
Auch dieser geht nicht etwa in erster Linie auf die finanzielle
Schlechterstellung bestimmter Gruppen zurück, sondern auf
die geringe Wertschätzung derselben (...) Man ist vielfach
zu bequem zum Lesen und zum Erarbeiten von Einsichten (z.B. in
wirtschaftspolitische und außenpolitische Vorgänge)"
(6. Auflage, S. 309)).
Diese Art aktivierender Perspektive war naheliegenderweise bei
den 'Adressaten' nicht zu erwarten. Empfehlungen etwa, wie eine
Seniorenzeitschrift ältere Menschen zu verstärktem gesellschaftlichen
Interesse oder zu zu einem größeren Maß an sozialer
Aktivität animieren könnte, hätte bei vielen Respondenten
eine selbstbezügliche Defizitzuschreibung vorausgesetzt,
zu der viele auch dann keinen Anlaß sahen, wenn sie dem
durchaus wahrgenommenen Leitbild dieser Zeitschriften nicht entsprachen.
Eine der befragten alten Menschen hatte die von mir mitgebrachten
Exemplare verschiedener Seniorenzeitschriften interessiert durchgeblättert
und stellte dann bitter fest: "Die alten Leute sollen dies
und das machen. Die alten Leute sollen viel laufen, die alten
Leute sollen Gymnastik treiben, die alten Leute sollen sich bewegen.
Wenn man das aber nicht mehr kann, ist man vergessen." Sie
erzählte, daß sie früher an sehr vielen Aktivitäten
teilgenommen hätte, die Kontakte, die sie dort hatte, aber
mit der Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes, die ihr das
selbständige Verlassen ihrer Wohnung unmöglich machte,
abrupt abgebrochen waren. Anfänglich sei es ihr sehr schwer
gefallen, diese Situation zu ertragen. Inzwischen habe sie aber
gelernt, auch die "kleinen Dinge" wahrzunehmen, die
für ihr jetziges Leben positive Bedeutung haben. Sie erzählte
von ihren Strategien, sich ihre schwierige Lage erträglich
zu machen und dabei ergab sich auch der Grund der Verbitterung
über die wahrgenommene Tendenz der mitgebrachten Seniorenzeitschriften.
Das offenkundige Bemühen dieser Zeitschriften, durch die
Darstellung sportlich und gesellschaftlich aktiver Menschen ein
positives Bild vom Alter zu vermitteln, läßt wenig
Raum für eine Anerkennung der Dinge, die für Menschen
bedeutsam sein können, die einem solchen Ideal nicht entsprechen.
Die 'Weigerung' der Befragten, sich selbst zum Gegenstand 'geragogischer'
Bemühungen zu erklären, ist natürlich noch kein
Beleg für die Nutzlosigkeit einer Seniorenzeitschrift auf
der Basis des neuen Altersbildes. Aber selbst wenn man sich der
Ansicht anschlösse, daß eine Orientierung am neuen
(anspruchsvollen) Altersbild oder an Werten der modernen Freizeitgesellschaft
der richtige Weg ist und dieser - persönliches Bemühen
vorausgesetzt - jedem offen steht, verbleibt die Frage, warum
nur eine bestimmte Altersgruppe zum Objekt entsprechender
' -agogischer' Bemühungen gemacht werden sollte.
Christian Carls
Weitere Linkhinweise:
Netzwerkarbeit: Netzwerk-sensible Seniorenarbeit
-
Prävention, Gesundheitsförderung & moderne
Seniorenarbeit -
Paradoxe des Altersbegriffs, Grenzen der klassischen
Altersbildforschung und Perspektiven für eine neue Debatte um Altersbilder |