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Christian Carls: Das neue Altersbild

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Interpretationen zur Debatte um Altersbilder

  Einführung
  Zur ideologischen Bedeutung des aufklärerischen Habitus...des 'neuen Altersbildes'
  These II: Die Verheißung des 'positiven Altersbildes' lebt von der Verschleierung schichtspezifischer sozialer und ökonomischer Benachteiligungen
  These III: Am 'positiven Altersbild' orientierte Sozialpolitik ist Politik für die sozial und ökonomisch privilegierten 'Alten'


Einführung

"Ob ich im Fernsehen die 'Seniorenprogramme' sehe oder ob ich einschlägige Kongresse besuche - immer wieder mache ich folgende Beobachtung: Engagierte Gerontologen treten vor die Öffentlichkeit und stellen das dominante gesellschaftliche Wissen über das Alter und über Alternsprozesse in Frage. Ihre Attacken gegen Altersklischees und negative Einstellungen alten Menschen gegenüber zielen darauf ab, die vorherrschenden Defizitvorstellungen vom Altern zu widerlegen bzw. zu modifizieren. Tenor solcher Auftritte fachkompetenter Spezialisten: älterwerden sei "in Wirklichkeit" gar nicht durch Abbau, Krankheit und Einsamkeit gekennzeichnet, wie manche es leider immer noch annehmen" (Langehennig, 1983, 5).

In der Tat: Die Inszenierung des 'neuen Altersbildes' ist auf das engste verknüpft mit einer Vielzahl anderer Theoreme der psychologistisch orientierten Gerontologie in Deutschland. Hingewiesen sei nur auf die sogenannte 'kognitive Theorie des Alterns' (Thomae, 1971), nach der es für 'erfolgreiches Altern' am wichtigsten ist, die Dinge positiv zu deuten: "Im Rahmen der bereits erwähnten Bonner Längsschnittstudie über das Altern hat sich gezeigt, daß solche subjektiven Bewertungen von gesundheitlichen Veränderungen für das alltägliche Leben und Verhalten von alten Menschen sehr viel bedeutsamer sind als objektive Funktionsverluste oder Diagnosen. ... Die eine Person wird Sehbeeinträchtigungen möglicherweise subjektiv als so schwerwiegend erleben, daß das gesamte zukünftige Leben in Frage gestellt wird. Eine andere Person wird dagegen zunächst nicht nur and die Verluste, sondern auch an die verbliebenen Handlungsmöglichkeiten denken ('Dann hörst du halt wieder mehr Radio. Da ist das Programm ohnehin besser')."(Wahl, 1991, 55) An der wünschenswert positiven Sichtweise aber scheinen die älteren Menschen naheliegerweise besonders durch das "negativ getönte 'Alters-Image', wie es in unserer Gesellschaft existiert"(Thomae, 1971, 12) behindert zu werden.

Entsprechend vielfältig ist auch die ideologische Bedeutung des 'neuen Altersbildes'. Erinnert sei nur an die päd- ,andr- oder geragogisch begründete Verpflichtung der 'Medien', nach Maßgabe des 'positiven Altersbildes' ein schönes Bild vom Altern in Deutschland zu malen.

Angemerkt sei noch die Mahnung, im Interesse des 'positiven Altersbildes' politische Arbeit nach Art der Grauen Panther besser zu unterlassen: "Stellvertretend sei auf die 'Grauen Panther' verwiesen. Sie fordern für die ach so benachteiligten Alten mehr und bessere Hilfe, mehr Versorgung usw. aber nicht tatsächlich etwas qualitativ anderes, ihr Agieren zementiert im Gegenteil noch zusätzlich bestehende Stereotypen. Um etwas zu erreichen, muß das Elend besonders herausgestrichen werden. Damit werden indirekt und sicher ungewollt die negativen Altersbilder verfestigt."(Buff, 1988, 73) Eine Aufgabe dieser Arbeit ist es, die Autopoiesis des Streits um das 'neue Altersbild' nachzuzeichnen. Um zu zeigen, daß es dabei nicht um akademische Spielverderberei geht, sollen die praktischen Implikationen dieser Debatte an zwei hintergründigen Botschaften des 'neuen Altersbildes' angedeutet werden: an einer, die mit dem aufklärerischen Habitus bei der Verkündung dieser Botschaft zu tun hat. und einer, die unmittelbar mit dem Inhalt des Altersbildes zusammenhängt.

Zur ideologischen Bedeutung des aufklärerischen Habitus bei der Verkündung des 'neuen Altersbildes'

Das 'positive Altersbild' erscheint als das Ergebnis 'methodisch abgesicherter', 'exakter', 'wissenschaftlicher' Befunde über die wahre Befindlichkeit der 'alten' Menschen. Die Front zum 'falschen', 'negativen Altersbild' ist mithin die Front zwischen aufgeklärter Wissenschaft und der von falschen Einstellungen, Vorurteilen, Klischees, Hetero- und Autostereotypen durchsetzten Gesellschaft. Aus diesem Widerstreit bezieht die psychologisch geprägte Gerontologie in Deutschland Bedeutung, Auftrag und Selbstverständnis.

Angesichts des dramatischen Rationalitätsgefälles haben 'weniger Eingeweihte' (Lehr, 1978b, 39) den Vorgaben der Wissenschaft nichts entgegenzusetzen. Ihnen bleibt, die Erkenntnisse der Wissenschaft 'sorgfältig durchzuarbeiten' (Lehr, 1981a, 94) und die Ergebnisse in Alltagshandeln umzusetzen.

Der aufklärerische Habitus ist Ausdruck solcher Rollenzuweisung: eine Wissenschaft, die 'für die Handelnden denkt', Altenarbeit als angewandte Gerontologie und die 'Betroffenen' selbst als wissenschaftlich angeleitete 'Geroprophylaktiker'.

Betroffen sind alle, von Kindesbeinen an: wichtig ist, "schon vom Kindes- und Jugendalter an, Geroprophylaxe zu betreiben.." (Lehr, 1991b, 183).

Für 'Altenarbeit' bietet Lehr den Begriff der 'gerontologischen Praxis' an: Lehr, 1987e, 31.

Weil aber den vom 'negativen Altersbild' affizierten 'Praktikern' eine gewisse Begriffsstutzigkeit zugetraut wird, wird ihnen ihr Platz bisweilen noch etwas direktiver zugewiesen:

"Geht man der Frage nach, was denn nun eigentlich von den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Alternsforschung in die Konzepte bzw. in die tägliche Praxis der Altenarbeit eingegangen ist, so zeichnet sich ein recht negatives Bild ab. ... Obwohl gerade diese Ergebnisse für eine Konzeptionalisierung bzw. praktische Anwendung in der täglichen Arbeit mit den älteren Menschen von so immenser Bedeutung sind, hängt Altenarbeit immer noch an herkömmlichen Vorstellungen... (...) Feststellbar scheint jedenfalls, daß die Erkenntnisse der Alternsforschung bis heute die ihnen gebührende Beachtung in den Konzepten wie auch in der täglichen Praxis der Altenarbeit noch nicht gefunden haben. (....) Vielmehr scheint es so zu sein, daß die in den letzten Jahrzehnten mit sehr viel Aufwand betriebenen wissenschaftlichen Untersuchungen und deren Ergebnisse und Erkenntnisse den ihnen gebührenden Eingang in die praktische Altenarbeit noch nicht gefunden haben. (....) Freilich bleibt zu hoffen, daß diese Erkenntnisse nun auch zu einer Revision der stereotypen Einschätzung älterer und alter Menschen führt. (...) Leider scheinen diese Erkenntnisse jedoch nicht genügend publiziert worden zu sein. Jedenfalls ist in der praktischen Altenarbeit immer noch festzustellen, daß das 'Defizit'-Modell handlungsorientierend herangezogen wird." (Staiger, 1988, 31, 39, 45, 50, 60)

Solche Aufdringlichkeit bei der Einforderung gehorsamer Umsetzung gerontologischer 'Erkenntnisse' ist eher eine Ausnahme. Ihr Inhalt aber ist typisch für den Habitus der 'Altersbild'-Aufklärer:

"Neuere Ergebnisse der gerontologischen Forschung finden nur schwer und meist verspätet Eingang in Curricula und Fortbildungsprogramme und somit in das Denken und Handeln der Praktiker. Die Konsequenzen für die geragogische Arbeit sind gravierend. Das Resultat des (fehlenden) Wissens vom Alter manifestiert sich in vielen Altenplänen, die nach Lehr (1983) oftmals an den Bedürfnissen der alten Menschen vorbeigehen und sie abstempeln (ebd., 20). Alte Menschen werden darin als Klientel pauschal unterschätzt, mit gutgemeinten Betreuungsprogrammen berieselt und in einer Konsumhaltung bestätigt." (Ebel, 1987, 108f.)

Auch die wohl wichtigste Protagonistin des 'neuen Altersbildes' in Deutschland, Ursula Lehr, sagt den 'PraktikerInnen' nochmals expressis verbis, welche Rolle für sie vorgesehen ist:

"... machen sich die für die praktische Altenarbeit Tätigen und für sie Verantwortlichen oft nicht die Mühe, auch in verständliche Sprache übertragene Forschungsergebnisse sorgfältig durchzuarbeiten. ... Beispiele hierfür wären all jene gesellschaftspolitischen Maßnahmen, die von der 'Isolation Älterer' ausgehen, obwohl Forschungsergebnisse .. erbracht haben, daß der 'Isolierte Ältere' nur eine ganz kleine Minderheit darstellt." (1981, 94)

Dabei geht es nicht um praxisbegleitende Forschung, sondern darum, daß zunächst einmal die Ergebnisse der 'Grundlagenforschung' beherzigt werden und insbesondere die Botschaft vom 'positiven Altersbild' und seinen Elementen:

"Die Forderung nach praxisorientierter Forschung ist unbedingt zu begrüßen, sie macht jedoch psychologische Grundlagenforschung keineswegs überflüssig. Im Gegenteil, praktische Maßnahmen sind nur dann sinnvoll, wenn sie auf Ergebnissen der Grundlagenforschung aufbauen. Unverantwortbar dem älteren Menschen gegenüber ist es jedoch, Anweisungen für die Praxis herauszugeben, die jeder wissenschaftlichen Fundierung entbehren oder teilweise sogar den wissenschaftlichen Erkenntnissen widersprechen." (1978b, 44)

Die aufdringliche Beanspruchung überlegener Rationalität läßt sich als Aufbäumen konservativen Wissenschaftsverständnisses gegen eine wissenschaftskritische Haltung deuten, die in der 'vorurteilsbeladenen' Gesellschaft schon länger und seit neuerem auch in der 'Wissenschaft' selbst zu beobachten ist.
Gemeint ist hier die neue 'Theorie-Praxis'-Debatte in den Sozialwissenschaften, z.B.: Beck/Bonß 1989; speziell für das Feld der Sozialarbeit: Pfaffenberger/Schenk, 1993; aktueller Überblick auch bei: Kannegiesser, 1994. Weiterführende Kritik an der 'gerontologischen Missionierung' von Praxis und Laien bei: Kondratowitz, 1993 und Nittel, 1988. 'Wissenschaft' steht hier in Anführungszeichen, weil zunehmend auch die Frage laut wird, wie 'wissenschaftliche Urteile' (außer, daß sie einem Wissenschaftsbetrieb entstammen) überhaupt noch sinnvollerweise von Urteilen anderer Herkunft unterschieden werden könnten.(z.B. Wingens, 1988, bes. 93f)

Wer Zweifel an einer geradlinigen Anwendbarkeit von Erkenntnissen hegt, die anderen Handlungskontexten als denen der Praxis entspringen, hängt vielleicht immer noch dem 'falschen Altersbild' an. Das nämlich übersieht völlig, wie Horst Ruprecht bereits 1970 festellt, "daß die moderne Präventiv-Medizin ebenso wie die entsprechenden Teildisziplinen von Psychologie, Soziologie und Pädagogik sehr wohl in der Lage sind, für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung Alternsprozesse sicherzustellen, die nach einem ganz anderen Schema verlaufen." (13)

So blauäugig sind nicht alle. Schneider z.B. sieht durchaus, daß die zentralen praxisorientierten 'Theorien' der psychologisch geprägten Gerontologie praktisch untauglich sind.

Zur Bilanz der 'Auseinandersetzung' zwischen der 'Disengagement-' und der 'Aktivitätstheorie' heißt es:

"Eine generelle Empfehlung, welches Verhalten im Alter die größte Befriedigung garantiert, kann damit auch nicht gegeben werden. Diese Bemerkungen mögen enttäuschen, weil sie die von der Disengagement- und von der Aktivitätstheorie genährte Hoffnung auf allgemeingültige Erkenntnisse zerrinnen lassen." (Schneider, 1974, 98)

Es ist kaum anzunehmen, daß irgend jemand außerhalb des Wissenschaftsbetriebes sich von der Binsenweisheit enttäuschen läßt, daß es nicht d e n Weg im 'Alter' gibt und auch 'Wissenschaft' ihn nicht weisen kann. Statt aber zu einer Kritik der (traditionellen 'Erhebungsmethoden' unterworfenen) Theorienbildung und -rezeption in der Gerontologie zu gelangen, findet Schneider wieder zu der Verheißung, die die Proklamation des 'Führungsanspruches' von Alternsforschung für die 'gerontologische Praxis' bis heute gegen alle Ernüchterungen mit der Handhabbarkeit ihrer Ergebnisse zu immunisieren scheint, ja im Gegenteil nach dem Motto des '(noch) mehr' = '(noch) besser'' jede Enttäuschung in die Forderung nach Ausweitung der Forschung münden läßt ("further research is needed": Beck/Bonß, 1989, 21):

"Sie rechtfertigen andererseits verstärkte Forschungsanstrengungen, damit in komplexen Untersuchungsplänen die Stärke der einzelnen Einflüsse und ihre gegenseitige Abhängigkeiten transparent gemacht werden." (Ebd.)

(...)

These II: Die Verheißung des 'positiven Altersbildes' lebt von der Verschleierung schichtspezifischer sozialer und ökonomischer Benachteiligungen

Vielleicht wichtiger noch als die Aufklärung, daß es viel mehr gesunde, aktive, lernfähige und -begierige 'Alte' gebe, als im 'Altersstereotyp' gemeinhin angenommen, ist die Verheißung, daß Menschen nach Maßgabe des 'positiven Altersbildes' altern könnten und daß es dazu wenig mehr bedarf als eine Änderung falscher Einstellungen und Verhaltensweisen.

Zu dieser Verheißung würde nicht passen, wenn objektiv schlechte Lebensumstände ihre Umsetzung im konkreten Fall verhindern. Das Leugnen der Bedeutung objektiver Benachteiligungen im 'Alter' ist der Botschaft des 'neuen Altersbildes' konkludent.

Ursula Lehr, Exponentin konservativer Altenpolitik, geht auf diese Bedenken gezielt ein. Ihre Strategie zur Verteidigung des 'neuen Altersbildes' lautet, daß in der Lebenssituation 'Älterer' zwar Schichtunterschiede deutlich werden, daß diese aber wenig mit ökonomischen und anderen von außen gesetzten Benachteiligungen zusammenhängen:

"Daß aber in der Öffentlichkeit oft der gesamte Fragenkomplex einer Lebensqualität ausschließlich und einseitig nur unter finanziellem Aspekt diskutiert wird, heißt jedoch weitgehend an den eigentlichen Problemen vorbeizureden. Die angenommene Verknüpfung zwischen Armut und Alter aber ist in vielen Industrieländern kein Charakteristikum des Altwerdens in unserer Zeit mehr. (....) Gerontologisches Wissen zu erweitern, gerontologische Praxis zu verbessern, das ist die Herausforderung der Zukunft..." (Lehr, 1987e, 29f. u. 31; ähnlich auch: Lehr, 1991b, 182)

Diese Sichtweise ergibt sich zwangsläufig schon aus der Vermutung, mit der Kritik am negativen 'Altersbild' das wesentliche gesellschaftliche Hindernis für 'erfolgreiches Altern' - mit dem die Älteren aller Schichten gleichermaßen konfrontiert wären - schon benannt zu haben:

"Das sogenannte Altersbild, die Erwartungen der Gesellschaft, bestimmen das Erleben und Verhalten im Alter mit. Wir sehen also: ein 'erfolgreiches Altern' liegt nicht nur an dem Einzelnen selbst, sondern auch an der Gesellschaft." (Lehr, 1988c, 98) Denn: "Ein erfolgreiches, zufriedenes Älterwerden, eine aktive Gestaltung des Alterns, setzt zunächst einmal eine Korrektur des negativen Altersbildes in unserer Gesellschaft voraus..." (Lehr, 1991c, 7)

Zwar greift auch Ursula Lehr den Begriff von der 'kumulativen Benachteiligung' auf. Sie bezeichnet damit aber nicht die Breite und Interdependenz der Auswirkungen ökonomischer und sozialstruktureller Benachteiligungen. Für die Zwecke des 'neuen Altersbildes' wird der Begriff psychologisch gewendet. Die dürftige Lebensrealität 'älterer' Menschen aus ArbeiterInnen- und Unterschicht erscheint ihr als Folge falscher Einstellungen und defizitärer Lebensbewältigung.

In der 'Psychologie des Alterns'

"Ein ungemein informatives Buch! Es enthält alles wesentliche, wissenschaftlich gesicherte Wissen, das wir heute über die Psychologie des Alterns haben. Für Sozialarbeiter in der Altenhilfe unentbehrlich!" (Theorie und Praxis der sozialen Arbeit, nach: Lehr, 1987a, Buchrücken)

werden die Faktoren der "'komplexen Kausalität dieser 'kumulativen Benachteiligung'" benannt (Lehr, 1987a, 308). 'Kumulativ Benachteiligte' sind demnach vor allem mit der ihnen eigenen Blödheit und Trägheit geschlagen:

"3. ... Hier haben bereits Eitner und Tröger (1971), Eitner et.al. (1975) nachgewiesen und Rosenmayr (1976) auch für Österreich bestätigt, daß der schlechtere Gesundheitszustand (der 'niederen Schicht', C.C.) nicht etwa als Folge zu großer Beanspruchung zu sehen ist, sondern als Folge eines lebenslangen Fehlverhaltens, als Folge mangelnder Gesundheitsvorsorge... Es sind nun einmal die niederen sozialen Schichten .., die, - obwohl es für sie kein Kostenproblem ist - den Gang zum Zahnarzt scheuen, die bestimmte Hygiene-Maßnahmen nicht beachten, die sich weniger sportlicher Betätigung und körperlichem Training zuwenden. Auch hier sind es wieder besonders die Frauengruppen, die von angebotenen Vorsorgeuntersuchungen keinen Gebrauch machen und dazu neigen, es mit der Tabletteneinnahme nicht so genau zu nehmen und auch die vorgeschriebene Diät nicht einzuhalten. ...

5. Die Interessenarmut dürfte weiterhin zur Kausalität sozialer Benachteiligungen beitragen, u.a. auch zur Einsamkeit. Goldfarb (1969) hat nachgewiesen, daß 'Einsamkeit eine Funktion der Langeweile' ist und somit Interessenarmut auch für Einsamkeitsgefühle verantwortlich zu machen sei. Was das Ausmaß und die Differenziertheit der Interessenstruktur anbetrifft, wird in der Freizeitforschung das aufgezeigte Gefälle .. immer wieder deutlich, wobei finanzielle Aspekte keineswegs den Ausschlag geben. (...)

6. Ein weiterer Punkt wäre die geistige Trägheit, der geringere Gebrauch von Informationsmitteln und Bildungsgütern. Auch dieser geht nicht etwa in erster Linie auf die finanzielle Schlechterstellung bestimmter Gruppen zurück, sondern auf die geringere Wertschätzung derselben, wie auch Rosenmayr (1976, 215) deutlich werden ließ. - Der Wert der Informationsquelle Zeitung wird von jenen Gruppen, bei denen man von einer 'kumulativen Benachteiligung' sprechen kann, nicht erkannt. Man ist vielfach zu bequem zum Lesen und zum Erarbeiten von Einsichten (z.B. in wirtschaftspolitische und außenpolitische Vorgänge) ...

7. Schließlich fehlt es oft an einer rationalen, zukunftsbezogenen Art des Denkens und Handelns..." (Lehr, 1987a, 308f.)

Das Leben von ArbeiterInnen, soviel wird deutlich, ist nicht die Welt der prominentesten Vertreterin des 'neuen Altersbildes'. Die Lebensanforderungen und -probleme in ArbeiterInnen- und Unterschicht und ihre komplexe Bewältigung bleiben ihr fremd.

In vertrautem aufklärerischem Habitus geht es um die Botschaft, daß 'aus wissenschaftlicher Sicht' zur Beseitigung 'kumulativer Benachteiligung' wohl psychologische und pädagogische Einwirkung, darüber hinaus aber keinerlei wirtschafts- oder sozialpolitisch verteilungswirksame Maßnahmen angezeigt sind:

"... von früh an muß der einzelne lernen, einer kumulativen Benachteiligung im Alter vorzubeugen. Gleichzeitig muß aber auch die Gesellschaft lernen, festverankerte, stereotype Rollenerwartungen ... aufzugeben bzw. zu modifizieren, um einer jeden Geroprophylaxe nicht gerade entgegenzuwirken." (Lehr, 1987a, 310)

Ein tolles 'Alter' wird so zur Frage gezielter -agogischer Interventionen und - selbstverständlich - der Bereitschaft der einzelnen, die Chancen zu nutzen, die das 'neue Altersbild' weist:

"Die gerontologische Forschung ergibt zweierlei: erstens, daß ein zufriedenstellendes Alter von der Erhaltung der Lernfähigkeit, dem damit für das Alter erreichbaren Bildungsniveau und der geistigen Erfüllung abhängt. Zweitens zeigt sich, daß die meisten Vorurteile über den Verlust geistiger Fähigkeiten im Alter nicht zutreffen. Allerdings muß auch die Bereitschaft vorhanden sein, das Alter als Aufbruchphase zu verstehen und sich neuen Eindrücken und Informationen aufzuschließen." (Beer, 1977, 110)

Die Leugnung objektiver Benachteiligungen, die sich nicht einfach durch Übernahme bildungsbürgerlicher Lebensmuster wegschaffen lassen, nimmt bisweilen groteske Züge an. So ist naheliegend, daß Menschen aus den ärmeren Schichten geringere Intelligenztestwerte erzielen als z.B. AkademikerInnen. Weil Erkrankungen und Sterblichkeit ebenfalls extrem schichtspezifisch sind (s.o.), ist klar, daß Intelligenztestwerte und Morbidität/Mortalität statistisch miteinander korrellieren. Die Idee, nun über ein Intelligenz(test)training ein längeres Leben zu erreichen, erscheint absurd. Sie paßt aber gut zur Verheißung des 'neuen Altersbildes' und der Vorstellung von dessen Schichtindifferenz:

"Wenn man dann noch berücksichtigt, daß eine wesentlich engere Korrelation besteht zwischen Intelligenztestwert und Mortalität als zwischen ärztlicher Diagnose und Mortalität (Böcher, W.), wird die Bedeutung der Erhaltung der Intelligenzleistungen ersichtlich." (Ruprecht, 1970, 18)

Eine intelligenztestwertorientierte Geroprophylaxe sollte nach Gerhard-H. Sitzmann am besten schon im frühen Kindesalter beginnen:

"Nüchtern sollte man auch die Entwicklung der Intelligenzleistung im Laufe des Alterns aufzeigen, desgleichen die Beeinflussung der Intelligenzentwicklung durch die Unterschiedlichkeit der Schulausbildung, worauf Horst Ruprecht, Ursula Lehr u.a. immer wieder verweisen. Letzteres kann man beispielsweise in einem Kurs über Erziehungsfragen tun, in welchem die Eltern über die Wichtigkeit der frühzeitigen und langfristigen Schulbildung informiert werden." (1970, 106)

Daß eine privilegierte Schulausbildung die Lebenschancen erhöht, dürfte den meisten Eltern vermutlich schon klar sein. Und hoffentlich auch, daß dies mehr mit der Verfassung unseres Wirtschafts- und Sozialsystems als mit möglichen Auswirkungen auf die Intelligenztestleistung im 'Alter' zusammenhängen dürfte.

(...)

These III: Am 'positiven Altersbild' orientierte Sozialpolitik ist Politik für die sozial und ökonomisch privilegierten 'Alten'

Die Ideologie des 'neuen Altersbildes' läßt sich in sehr vielen Bereichen der Altenarbeit und insgesamt in der Sozialpolitik für 'ältere' Menschen finden (kritisch dazu: Tews, 1991, 90ff.). Hier sei beispielhaft auf die Bedeutung für die offene (soziokulturelle) Altenarbeit in Deutschland hingewiesen.

"Wie steht es mit der Anwendung gerontologischen Wissens, demzufolge z.B. nur der kleinere Teil der Altenbevölkerung krank, behindert und/oder pflegebedürftig ist, demzufolge in der Altenarbeit das Ansetzen vor vorhandenen Kompetenzen Vorrang vor dem Ansetzen an Defiziten hat, demzufolge physische und geistige Leistungsfähigkeit nicht zwangsläufig abbauen? Was wir nach wie vor vermissen, ist häufig noch die Übernahme dieses Wissens in Denken und Handeln..." (Tokarski, 1986, 31)

Die rhetorischen Fragen W. Tokarskis schließen sich der gängigen psycho-gerontologischen Klage an, daß die Altenarbeit die Botschaft des 'positiven Altersbildes' nur unzureichend umsetzt. Und dies, obwohl ihr der Platz als 'gerontologische Praxis' (U.Lehr) schon lange zugewiesen wurde. >S.109

In den 60er und 70er Jahren gab es in Deutschland einen Boom bei der Einrichtung von Altenbegegnungsstätten. Dominantes erklärtes Ziel war es, 'älteren' Menschen Begegnungsmöglichkeiten zu verschaffen, also einer Isolation 'Älterer' entgegenzuwirken.

Diese Begegnungsstätten, die bisher vorrangig von über 70jährigen verwitweten Frauen benachteiligter Schichten genutzt wurden, dürfte Ursula Lehr im Auge gehabt haben, wenn sie solche Programme für (aus wissenschaftlicher Sicht) obsolet hält:

"Beispiele hierfür (die unzulängliche Berücksichtigung von Forschungsergebnissen, C.C.) wären all jene gesellschaftspolitischen Maßnahmen, die von der 'Isolation Älterer' ausgehen, obwohl Forschungsergebnisse aus den europäischen Ländern und den USA erbracht haben, daß der 'Isolierte Ältere' nur eine ganz kleine Minderheit darstellt." (Lehr, 1981a, 94)

R. Schmidt geht im Namen des 'positiven Altersbildes' noch weiter, wenn er in bezug auf traditionelle Begegnungsstätten-Arbeit anmerkt:

"... es muß nachhaltig irritieren, wenn (fach-)öffentlich zusehends die thematischen Akzente auf Begriffe wie Kompetenz, Altersstrukturwandel, Differenzierung des Alters oder das 'brachliegende Alterskapital' gelegt werden, parallel aber die angesprochenen Dienste der offenen Altenhilfe ungebrochen davon ausgehen, daß Ältere der Hilfestellung durch die Gemeinschaft und der Anregung via altersspezifisch ausgerichteter Angebote bedürfen, um ihr weiteres Leben sinnerfüllt und in kommunikativem Rahmen verbringen zu können. ... Weder bedarf das Alter heute im allgemeinen der Integrations- und Gestaltungshilfen noch ist im allgemeinen ein Vergesellschaftungsdefizit im Westen der Republik zu unterstellen.." (Schmidt, 1992, 6)

Wie eine am 'neuen Altersbild' orientierte Altenarbeit stattdessen aussehen könnte, zeigt z.B. Ursula Lehr:

"Es bestehen bereits jetzt schon vielfältige Bildungsmöglichkeiten für die ältere Generation, die es auszubauen und zu erweitern gilt, und für die man verstärktes Interesse wecken sollte. Für manch einen mag sogar ein reguläres Universitätsstudium in Frage kommen. Für andere bietet die 'Seniorenuniversität' oder 'Universität für das dritte Lebensalter' (...) eine neue Betätigung. Doch auch Bildungsreisen in ferne Länder, das Erlernen einer neuen Sprache, das Aufnehmen von Wissen in Volkshochschulkursen und Familienbildungsstätten, das Auffrischen oder gar der Neuerwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten handwerklicher oder künstlerischer Art können vielen Menschen das Gefühl geben, endlich etwas zu tun, wofür während des bisherigen Lebens (...) keine Gelegenheit bestand" ((b), 27).

Nur scheinbar wird dabei von einer an Defiziten orientierten Altenarbeit Abschied genommen. Tatsächlich werden der Mehrheit der 'älteren' Menschen, die nicht arm, einsam oder hilfsbedürftig sind, die dem Leitbild des 'aktiven Seniors' aber vermutlich auch nicht entsprechen, nach Maßstab eines wohl zu Recht als bildungsbürgerlich zu charakterisierenden Lebensmusters handfeste Defizite - etwa ein Mangel an 'geistig-kultureller Aktivität' - zugeschrieben.

"Hat der Herr Pfarrer es uns nicht wieder schön gemacht?" Mit dieser Paraphrase verhöhnen U. Koch-Straube/S. Krieger in einem Beitrag für die Evangelischen Impulse die klassische Klientel kirchlicher Altenarbeit. Wer das ist, sagen die Verfasser auch:

"Zunächst müssen wir feststellen - und folgen damit den Klagen der haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Gemeinden: Die Kreise werden hauptsächlich besucht von Frauen, wenig aktiven, ziemlich alten Menschen. Sie gehören eher der unteren Mittelschicht an. Wir treffen also nur auf einen bestimmten Ausschnitt der älteren Bevölkerung." (Koch-Straube/Krieger, 1990, 8)

Die (angeblich entmündigende) traditionelle Altenarbeit soll nicht weiter betrieben werden, "als um der Barmherzigkeit willen nötig." (9)

Dies zeigt sich auch an dem neuesten Trend in der soziokulturellen Altenarbeit. Angebote sollen, so die Forderung, grundsätzlich allen Altersgruppen offenstehen, um eine 'Ghettoisierung' der Älteren zu vermeiden. Diese Forderung ergibt sich schon zwangsläufig aus dem Willen zur Beseitigung des 'negativen Altersbildes in der Gesellschaft': Wenn die 'Älteren' tatsächlich allgemein als hilfebedürftige, halsstarrige und lernunfähige Wesen gesehen werden, dann bedürfte es in der Tat nur der Begegnung zwischen den Generationen, um das neue, positivere 'Altersbild' zur Geltung zu bringen. Die Simplizität der 'Altersbild-Perspektive' macht es dabei fast unmöglich, die subtilen Barrieren zwischen den Alterskohorten wahrzunehmen.

So bereichernd organisierte intergenerationelle Begegnung als Auflockerung hoffentlich wirklich bereits 'übermäßig' bestehender kohortenspezifischer Kontakte auch sein mag - klar ist, daß diese das besondere Anliegen einer Bildungsschicht ist, in der die Distanz zur eigenen Altersgruppe z.T. besonders ausgeprägt zu sein scheint. In Befragungen zeigen Personen mit relativ starken Ressourcen - Geld, Bildung, Selbstbewußtsein, Kontakte - eine besondere Neigung zur Dissoziation von ihrer Altersgruppe ('man fühlt sich noch jung') und besonders interessiert an Kontakten zu Jüngeren (Überblick bei Schulz, 127f.). Dies ist naheliegend, weil sie über genug Möglichkeiten verfügen, um ihren Vorstellungen auch im konfliktträchtigen Umgang mit den Jüngeren Geltung zu verschaffen.

Für benachteiligte 'Ältere' kommen organisierte intergenerationelle Begegnungen dagegen schon deshalb weniger in Frage, weil sie nicht die vorzeigbaren Repräsentanten des 'positiven Altersbildes' sind.

Dennoch sind die Verfechter einer neuen Altenarbeit in der Regel von der prinzipiellen Schichtindifferenz ihrer Angebote überzeugt. Zwar wird bisweilen zur Kenntnis genommen, daß die Exponate des neuen Altersbildes - seien es nun 'Frauen gegen Apartheid' oder 'Seniorenstudenten und -studentinnen' - faktisch ausnahmslos aus den privilegierten Schichten rekrutiert werden. Präsentiert werden sie aber als 'Avantgarde', der über kurz oder lang alle nachfolgen oder bei gutem Willen doch nachfolgen könnten (s. Carls, 1994, 79).

Ist das erst akzeptiert, muß die Investition der in der Altenarbeit verfügbaren finanziellen Mittel für solche zukunftsweisenden Angebote natürlich besonders lohnenswert erscheinen. Aber: Die SeniorenstudentInnen und -expertInnen, die TheaterspielerInnen und SeniorenredakteurInnen, die KulturkonsumentInnen und neuen SelbsthilfeaktivstInnen sind Angehörige einer relativ kleinen Bevölkerungsgruppe, die zwar im sozialstrukturellen Wandel etwas anwächst aber dadurch noch lange keine Avantgarde ist, da ihre Aktivitäten auch bei noch so gutem Zureden für viele andere einfach nicht in Frage kommen. Wer dem 'neuen Altersbild' die Forderung nach einer 'neuen Altenarbeit' anfügt und diese der 'traditionellen Altenarbeit' entgegenstellt, sollte wenigstens zur Kenntnis nehmen, um was es dabei geht: um den Vorschlag, sozialpolitische Mittel einer benachteiligten Schicht, zumindest einer bestimmten Adressatengruppe, zu nehmen, und privilegierteren Gruppen mit anderen Bedarfen zu geben.

Ein letzter Gedanke: Häme und Spott über Angebote der Altenhilfe und ihre Klientel auszuschütten, ist weder bei der traditionellen Altenarbeit noch bei den neuen Angeboten besonders schwierig, weil beide versuchen, spezifische Benachteiligungen ihrer Adressaten aufzufangen und dabei manchmal recht hilflos wirken. Bei den sehr begrenzten finanziellen Mitteln, die der sozialen Altenarbeit zur Verfügung stehen, gibt es hier faktische Verteilungskonflikte. Das sollte eingestanden und in Respekt für die unterschiedlichen Bedarfe der verschiedenen Gruppen ausgetragen werden.


 

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Weitere Linkhinweise:

Homepage: www.ccarls.de
Arbeitskreis Geragogik
Aktuell:
Netzwerkarbeit: Netzwerk-sensible Seniorenarbeit -
Prävention, Gesundheitsförderung & moderne Seniorenarbeit - Paradoxe des Altersbegriffs, Grenzen der klassischen Altersbildforschung und Perspektiven für eine neue Debatte um Altersbilder