Kritische Gerontologie im Internet |
Kritik an der Debatte um Altersbilder
Zum 'Altersbild in der Gesellschaft' Befunde Die Befunde der Forschung zum 'Altersbild' in den Gesellschaften Europas und den USA sind keineswegs so konsistent negativ, wie dies von Protagonisten des 'neuen Altersbildes' behauptet wird. Die 'Psychologie des Alterns' von Ursula Lehr (1. Aufl. von 1972) muß als die zentrale, jedenfalls einflußreichste, Monographie zur Durchsetzung des 'neuen Altersbildes' in der BRD angesehen werden (s.u.). Dort heißt es von der 1. bis zur aktuellsten (überarbeiteten, 7.) Auflage:
1. Dieses Bild ist grundsätzlich negativ gezeichnet, und zwar weit negativer, als es sich für die Gesamtheit der älteren Menschen vertreten läßt ... Stereotypien, unzulässige Verallgemeinerungen herrschen vor. 2. Bei jüngeren Personengruppen ist das Bild des alten Menschen am negativsten akzentuiert; hier zeigt sich die stärkste Diskrepanz zum Realverhalten Älterer. (...)" (Lehr, 1972, 248; auch: Lehr, 1991a, 284) Diese Diagnose erzielt nachhaltige Wirkung. In der Folge erlebt die Klage über das 'negative Altersbild' einen Boom in der deutschsprachigen Literatur zur Gerontologie und Altenarbeit. Dabei wird Ursula Lehrs Zusammenfassung dankbar zitiert, paraphrasiert, nachgeahmt oder weiter dramatisiert:
Manchen Streitern des 'neuen Altersbildes' ist auch das noch nicht bunt genug: die Liste Hohmeiers wird z.B. bei Bosch um weitere Negativattribute ergänzt (1986, 14). Die Geschichte vom 'negativen Altersbild in der Gesellschaft' bietet sich für Gerontologen, Geragogen, Pädagogen und Psychologen als Kontrastfolie zu einer 'professionellen', 'wissenschaftlich begründeten' Sicht des Alterns in verführerischer Weise an. Dies mag mit dazu beigetragen haben, daß sie weithin ungeprüft übernommen wurde. Tatsächlich nämlich wird die 'Zusammenfassung' in der 'Psychologie des Alterns' schon durch die dort benannten 'Untersuchungen' nicht gedeckt, z.B. nicht von:
(...)(Probleme) ... mit den Begrifflichkeiten 'Alter', 'alte' oder 'ältere Menschen' Während Gerontologen gerne ihren differenzierten Altersbegriff hochhalten ('chronologisches', 'biologisches', 'psychologisches', 'funktionelles' etc. 'Alter') wird den Respondenten bei der Erforschung ihres 'Altersbildes' ein rein kalendarischer Altersbegriff stillschweigend unterstellt oder ausdrücklich aufgezwungen. Verdrängt wird dabei, daß in der Gerontologie der 'differenzierte Altersbegriff' meist nur für die Aufzählung einer willkürlichen Reihe von Adjektiven währt:
Diese Art pragmatischer Definition ist für eine wissenschaftliche Literatur naheliegend, die sich durch 'klare' Begrifflichkeit und 'exakte' Befunde auszeichnen will:
Der primitiv-pragmatische Altersbegriff der gerontologischen Literatur wird dabei 'der Gesellschaft' zunächst übergestülpt, um im Nachzug die Stereotypisierung von Menschen allein aufgrund ihres zählbaren Alters zu beklagen:
Nicht-Soziologen, Nicht-Gerontologen und Nicht-Statistiker, "die Leute" ((Lehr, 1991a, 286), >S.55), können sich tatsächlich aber einen viel vageren, subtileren, wechselhafteren und durchgängig differenzierten Altersbegriff leisten. Gewonnen wäre schon viel, wenn 'Altersbild'-Forscher bei ihren Einstellungsmessungen auch mal fragen würden, wer denn für die Befragten 'alt' ist. Das nämlich ist für viele 'Altersbild'-Autoren eine ausgemachte Sache:
In einer 1991 veröffentlichten Studie zum Selbstbild 'älterer' Menschen wurde diese Frage gestellt. Der "Beginn des 'Alt-Seins" wurde von den Befragten im Durchschnitt mit 71,6 Jahren verortet (F.Oswald, 1991, 282). In einigen Studien zum Selbstbild 'älterer' Menschen wurde immerhin gefragt, ob die Befragten sich denn auch selbst als 'alt' bezeichnen würden. Viele Resultate zeigen, daß die meisten über 70- oder über 80jährigen sich auf Befragen nicht als 'alte Menschen' einstufen (>S.91). Dies wäre kaum möglich, wenn im allgemeinen Sprachgebrauch klar wäre, daß jeder über 65 ein 'alter Mensch' ist. Und selbst wenn in Befragungen den Respondenten der Begriff 'alte Menschen' dahingehend erläutert wird, daß damit 'über 65jährige' gemeint seien, ist dies kaum eine Garantie, daß den Respondenten dies bei der Beantwortung der Fragen bewußt bleibt. Das ist selbst dann sogar eher zu bezweifeln, weil die 'über 65jährigen' eine sehr abstrakte Gruppe bilden, die von gewohnten Gruppierungen in der Alltagswahrnehmung der Befragten stark abweicht und damit schwer vorstellbar sein dürfte. So wird es weiter vorkommen, daß sich die Antwortenden trotz solcher Eingangserläuterungen auf die vielleicht 80jährige Nachbarin oder 'deutlich alte' Menschen in der Straßenbahn beziehen. Mithin: Wenn sich Befragte über '65jährige und ältere' äußern, kann dies von gleicher Qualität sein wie bereitwillige Äußerungen zu erfundenen Politikern und imaginären Werbespots (>S.33). Man sollte aber nicht in den Irrtum verfallen anzunehmen, daß sich das Bild von 'den Alten' dann eben z.B. auf alle über 71,6jährigen bezieht. Bedacht werden muß, daß bei dem o.g. Befund von Oswald den Respondenten eine an Lebensjahren orientierte Altersdefinition aufgezwungen und nur noch die Wahl der Zahl gelassen wurde (der Verfasser selbst relativiert die Aussagekraft dieser Zahl (282)). So macht es Oswalds Respondenten, nachdem sie den Beginn des 'Alt-Seins' auf Aufforderung beziffert haben, auch nichts aus, diese Zahl bei einer späteren Selbsteinordnung nicht weiter zu verwenden: Keiner der Befragten (Durchschnittsalter: 76) wollte sich auf entsprechende Frage zu den 'Alten' zählen (ebd.). Wie situativ, sprunghaft und unkontrollierbar 'Altersdefinitionen' tatsächlich sind, illustriert auch eine Studie von 1962, in der Menschen zwischen 60 und 94 Jahren gefragt wurden, ob sie sich als "young, middle-aged, elderly, old, or aged" bezeichnen würden. Eine Stunde später sollten die Befragten den Begriffen allgemein Altersspannen zuordnen und wurden im Anschluß um eine nochmalige Selbsteinordnung gebeten. Das Ergebnis: Nur bei 26% der Respondenten war die anfängliche Selbsteinordnung mit den den Gruppen zugewiesenen Altersspannen hinsichtlich ihres tatsächlichen Alters (an Jahren) stimmig; 59% änderten ihre Selbsteinordnung beim zweiten Durchgang (Jeffers/Eisdorfer/ Busse, 1962). Die Verfasser interpretieren sicherlich nicht zu gewagt, wenn sie feststellen, was außerhalb des Wissenschaftsbetriebs niemanden überraschen dürfte:
Empirische Forschung, die harte Daten zum 'Altersbild' vorlegen will, muß sich über die situative Einbettung von Begriffsdefinitionen im Alltag notgedrungen hinwegsetzen, weil deren Anerkennung fatale Konsequenzen für die Praxis quantitativer 'Altersbild'-Forschung hätte:
Tatsächlich gibt es eine Vielzahl von Altersdefinitionen, auf die Menschen je nach Kontext zurückgreifen können. Eine bekannte Begrifflichkeit wird z.B. im Satz 'man ist so alt, wie man sich fühlt' zum Ausdruck gebracht: Altsein wird hier als eine Funktion der subjektiven Befindlichkeit begriffen. (...)Analog lassen sich auch die 'negativen Einstellungen' zum 'Altern' auflösen. Bei Heinz Georg Rupp heißt es z.B.:
Wenn 'Altern' aber in ausgesuchten Kontexten der 'Umgangssprache' gerade die Minderung der Leistungsfähigkeit bezeichnet, kann es an sich nicht überraschen, daß 'Altern' dann tatsächlich mit 'Einbuße' und 'Minderung' verbunden wird. Nur durch den Wechsel von einem 'gesundheitsorientierten' (im 1. Satz) zum 'kalendarischen' Altersbegriff (im 2. Satz) kann die beabsichtigte Suggestion eines (am Lebensalter orientierten) negativen Altersbildes bewahrt werden. Die weitere Vielfalt von Altersdefinitionen mag sich jeder selbst illustrieren lassen. Man braucht dazu nur 'jüngere' und 'ältere' Menschen zu fragen, ab wann man nach ihrem Verständnis 'alt' sei. Hier kann der Hinweis reichen, daß eine Aufzählung nur unterschiedlicher Jahresgrenzen dabei nicht herauskommen wird. Wenn aber in einer Befragung für die Respondenten z.B. als 'alt' gilt, wer bestimmte Dinge nicht mehr 'kann', verdreht sich der Sinn des dabei zwangsläufig 'gefundenen' 'negativen Altersbildes'. Dann gelten die 'Alten' z.B. als gebrechlich, weil nur wer Gebrechen hat, zu den 'Alten' gezählt wird. Sie gelten z.B. als einsam, weil nur, wer nicht mehr 'rauskommt', als 'alt' gilt - usw. 'They (old people) have lost most of their teeth' - dieses Statement fand in einer Befragung 79% Zustimmung (Tuckman/Lorge, 1953, Table 3). Also: Solange man noch die meisten Zähne hat, ist man nicht 'alt'... Eine ähnliche Begrifflichkeit läßt sich übrigens auch bei den Verfechtern des 'positiven Altersbildes' finden. Wenn in gerontologischer Literatur von 'alten' oder 'älteren' Menschen die Rede ist, sind fast immer die 'über 60-' oder die 'über 65jährigen' gemeint: Die aber seien keineswegs so schlecht dran, wie 'allgemein' angenommen. Den Altersbegrifflichkeiten von Laien nähern sich Gerontologen in definitorischen Ausflügen an, wenn sie der angeblichen Laienvorstellung vom kalendarisch determinierten stetigen Abbau entgegentreten und dazu 'Alter' mit immer neuen Adjektiven verknüpfen: 'biologisch', 'physiologisch', 'psychologisch', 'funktional', 'ökologisch' usw. Faktisch durchgängig gelten dabei die als 'alt', die in eben diesen Bereichen Beeinträchtigungen erkennen lassen. Die nach diesen Maßstäben 'Alten' sind mindestens so schlecht dran, wie die im 'negativen Altersbild der Gesellschaft' - leistungsgemindert, unmotiviert und mit faltiger Haut:
Anders allerdings als in der 'Umgangssprache', wo Menschen auch 'aufblühen' und 'wieder richtig jung' werden können, wird erstaunlicherweise mit diesen Begriffskreationen, die ja gerade dem 'vorherrschenden Altersbild' und seiner vermeintlich undifferenzierten Perspektive entgegengehalten werden, tatsächlich ein unumkehrbarer Abbau in den bezeichneten Bereichen suggeriert. Mit der Vielfältigkeit von Altersbegriffen im Alltag zerbröselt die Idee von der Stereotypisierung der 'Alten'. Die Idee basiert auf der systematischen Verwechslung der komplexen Laienbegrifflichkeit vom 'Alt-sein' mit dem quantitativen Altersbegriff in der Gerontologie ('über 60' oder 'über 65'). Eine Gruppe ist naheliegenderweise nur dann stereotypisierbar, wenn sich die Mitglieder dieser Gruppe an einfachen Merkmalen erkennen lassen und diese Merkmale mit den zugeschriebenen Eigenschaften nicht identisch sind. - 'Alt ist man, wenn man in's Altenheim muß'; danach wären 'alte Leute' also Menschen, die zu eigenständigem Leben nicht mehr in der Lage sind. Solche Aussagen könnten auf eine situativ beschränkte Begrifflichkeit hindeuten - mit 'Stereotypisierung' der 'gerontologisch Alten' (also der über 60- oder über 65jährigen) hat das nichts zu tun. (...)(Probleme) ... mit dem Begriff des 'Stereotyps' Neben dem Konzept der Einstellung (immer - zumindest latent - vorhanden, stabil, verhaltensrelevant und abfragbar) findet man bei der Rede vom 'Altersbild' typischerweise ein weiteres sozialpsychologisches Konstrukt: den Begriff des 'Stereotyps'. Ob Aussagen über 'alte Menschen' als 'Einstellungen' oder als 'Stereotypen' oder als beides eingeordnet werden, erscheint unsystematisch und inkonsistent. Während in theoretischen Definitionen noch wichtige Unterschiede erkennbar scheinen, wird bei den 'Messungen' z.T. wieder alles in einen Topf geworfen ("The purpose of this study was to investigate the attitudes of a young adult group of graduate students toward old age as measured by their responses to a questionaire consisting of misconceptions and stereotypes." (Tuckman/Lorge, 1953, 249) Dennoch erscheint eine kurze Auseinandersetzung auch mit dem Stereotypbegriff lohnenswert. Zum einen, weil der Begriff des 'Altersstereotyps' häufig synonym zu dem des 'Altersbildes' oder quasi-synonym als besonders festgefügtes, unveränderliches 'Altersbild' benutzt wird (z.B. bei Müller, 1988, 80). Analog ist das Verhältnis der Begriffe 'Fremd-' und 'Selbstbild' zu 'Hetero-' und 'Autostereotyp' (z.B. bei Pöhlmann, 1975, 6). Zum anderen, weil die Verwendung des Stereotypbegriffs gleichzeitig für die radikalste Wertung von Befunden der Altersbildforschung steht. Das Konzept beinhaltet nämlich die Vorstellung, daß Eigenschaften im Grundsatz allen Mitgliedern einer stereotypisierten Gruppe zugeschrieben werden,
und - umgekehrt - jedes einzelne Mitglied hinsichtlich dieser Eigenschaften stereotyp wahrgenommen wird:
Damit stellen sich nochmals verschärft die Fragen, - nach welchen Maßstäben Menschen in der Alltagswahrnehmung gruppiert werden, - wie stabil und homogen diese Parameter sind, - und ob und wie sie im unmittelbaren Umgang mit 'konkreten' Angehörigen dieser Gruppen Anwendung finden. Bei der standardisierten Erforschung von Stereotypen beantworten sich diese Fragen in der Regel ganz unkompliziert. Die Antworten darauf werden den Respondenten einfach vorgegeben:
Wenn das 'Instrument der Stereotypforschung' zur Anwendung kommt, sind also die wesentlichen 'Ergebnisse' schon abgemacht. So erhalten die 'Befragten' im 'Old People Questionaire' von Jacob Tuckman und Irving Lorge z.B. folgende Anweisung zur 'Beantwortung' von 137 vorgegebenen Statements:
Eine Möglichkeit zur 'Enthaltung' ist nicht vorgesehen. Im Gegenteil: Potentielle Antwortverweigerer werden nochmal direktiv aufgefordert, keine Frage unbeantwortet zu lassen: "Answer all questions, if you are not sure, guess." (Ebd.) So werden die 'Befragten' faktisch genötigt, in der einen oder anderen Richtung auf jeden Fall stereotype Aussagen über 'alte' Menschen zu treffen. Die forsche Anweisung, Aussagen wie "Old people like to play checkers or dominoes", "They suffer from constipation", "They cannot taste differences in food" oder "They die of cancer or heart disease" (Table 3) entweder zu Bejahen oder zu Verneinen, eignete sich dabei vermutlich eher noch zu einem modifizierten 'Milgram-Experiment' als zum Aufspüren tief verwurzelter Stereotypen. Solche Dreistigkeit bleibt forschungspraktisch unproblematisch, da die Respondenten die ihnen zugewiesene Statistenrolle in diesem Prozeß anscheinend mehrheitlich widerstandslos hinnehmen. Dies auch, weil sie i.d.R. nicht wissen können, welche Begrifflichkeiten ihnen von den Forschern unterstellt werden (z.B.: 'alte Menschen' = 'die über 60jährigen') oder es ihnen nichts ausmacht (bzw. sie genötigt werden), sich über eine 'Gruppe' zu äußern, die sie ohne spezielle Aufforderung in ihrem Alltag kaum als solche begreifen würden. Nachdem Respondenten so praktisch genötigt wurden, sich über 'die Alten' oder über 'die über 65jährigen' zu äußern, wird ihnen von den Forschern oder anderen Interpreten solcher Studien eine stereotype Wahrnehmung von Menschen allein aufgrund deren Lebensalters vorgehalten... (...)
Offensichtlich ist, daß es sich bei der Entdeckung der 'Lernfähigkeit' um eine Ideologie handelt, die die Erschließung neuer Klientel für Gerontologen, Geragogen und Pädagogen zur folgerichtigen Konsequenz wissenschaftlichen Fortschritts umdeutet. Daß Menschen in der Lage sind, auch im 'Alter' die eine oder andere Information aufzunehmen, ist auch schon vor Erfindung des 'positiven Altersbildes' bekannt gewesen. Klar ist: Es geht nicht um Lernfähigkeit per se, sondern um die Fähigkeit und Bereitschaft zur Teilnahme an den spezifischen Angeboten, die den Verkündern der Lernfähigkeit 'Älterer' vorschweben:
Und es geht natürlich um die Botschaft von der weithin ungebrochenen Leistungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer, meist verknüpft mit der Suggestion, daß die Frühausgliederung älterer Arbeitnehmer aus dem Erwerbsleben vor allem ein psychologisches Problem - nämlich eine Folge falscher Stereotypen ('Defizitmodell') - bei den Betriebsleitungen (evtl. im circulus vitiosus mit tatsächlich nachlassenden Leistungen infolge einer self-fulfilling prophecy (z.B.: Pohl, 1976, 125f.; Staudacher, 1986, 15f.)) sei
und also durch gerontologische Aufklärung über die 'wahre' Leistungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer vermieden werden könnte (z.B.: Pohl, 1976, bes. 119ff.). Die Beschwörung der Lernfähigkeit zielt dabei nicht einfach auf die Rekrutierung 'der Alten' für pädagogische Altenarbeit, sondern vorrangig auf die Rekrutierung neuer (privilegierter) Schichten. Die Entdeckung von der Bildungsfähigkeit der 'Alten' ist die Umorientierung von Altenarbeit auf 'bildungsfähige Alte'. (>S.121) Faktisch sind dies bildungsgewohnte, ökonomisch bessergestellte über 60jährige, die es schon immer gegeben hat (dies zwar in geringerer, aber zur Auffüllung eines Kurses auch vor ihrer Entdeckung sicherlich ausreichender Zahl). Da ist es nur konsequent, der klassischen Klientel von Altenarbeit Bildungsunfähigkeit zu attestieren. So berichtet Erich Schützendorf über Erfahrungen, Lernangebote in Altentagesstätten und Altenklubs anzubieten. Er stellt fest:
Die Nutzer dort gehören der "oberen Unterschicht bis unteren Mittelschicht" an, hatten eine niedere Schulausbildung und sind überwiegend Hausfrauen:
Schützendorf resümiert, daß Bildungsangebote mit diesen 'Alten' (den Besuchern der Tagesstätten und Klubs) nicht zu machen sind. Insbesondere mangele es an wesentlichen Voraussetzungen wie 'Ansprechbarkeit', 'Lernbereitschaft', 'Lernenergie', 'Lerntechnik und Lernökonomie' etc (4ff.). Angemerkt sei, daß es durchaus auch Bildungsarbeit mit der klassischen Zielgruppe von Altenarbeit ('sozial- und bildungsbenachteiligte ältere Menschen') gibt. Bei dem wohl bekanntesten entsprechenden Projekt fehlt konsequenterweise eine Bezugnahme auf die Entdeckung der Lernfähigkeit 'älterer' Menschen (Knopf, 1987).
Hinsichtlich der 'Bildungsfähigen' ergibt sich das Dilemma,
daß - ausgestattet mit dem 'neuen Altersbild' - einerseits
die Kompetenz der 'Älteren' beschworen, andererseits aber
nach Defiziten gesucht werden muß, die schließlich
durch die Bildungsangebote aufgehoben werden sollen (Nittel, 1990,
80). Dort erscheinen die 'kompetenten Älteren' dann gegebenenfalls
als "'kulturelle Deppen' .., denen - wie schon seit
fast fünfzehn Jahren - ausgerüstet mit den 'wissenschaftlichen
Ergebnissen' der psychologischen Alternsforschung, nahegebracht
werden soll, daß ihr Alltagswissen vom Altern über
weite 'Strecken unangemessen' sei, weil - wie 'wissenschaftlich
nachgewiesen' - Altern 'in Wirklichkeit' gar nicht durch zwangsläufigen
Abbau, Isolation, Einsamkeit etc. charakterisiert sei" (Knopf,
1985, 8f.). (...)
Die Kunde von der 'Potenz' der 'alten' Menschen ist hier mit aufgenommen worden, weil sich an einem neueren Beitrag zur Sexualität 'alter' Menschen gut illustrieren läßt, wie sich die unterschiedlichsten Bereiche gerontologischen Interesses mit der immer gleichen Idee (vom 'negativen Altersbild' und seinen schädlichen Wirkungen) bestreiten lassen.
Mit dieser kategorischen Feststellung bilanziert Jürgen Howe die von ihm zuvor dargelegten Befunde zur Fähigkeit zu und Frequenz von Geschlechtsverkehren in verschiedenen Lebensaltern. Der Mythos, von dem Howe spricht, muß sehr rigide sein. Zeigen doch seine Statistiken z.B., daß 64% der verheirateten über 65jahre alten Menschen seltener als einmal im Monat oder überhaupt keinen Geschlechtsverkehr haben. Immerhin: "Ein völliger Verzicht auf Geschlechtsverkehr ist auch ... bei den über 75jährigen nicht zu verzeichnen." (148) Tatsächlich zeigen Howes Daten eine Reduktion von Geschlechtsverkehr-Frequenzen, wie sie manchen Träger des 'generalisierten Stereotyps zur Sexualität im Alter' (137) überraschen dürfte. Für Howe ist klar, daß dies vorrangig eine Folge des 'negativen Altersbildes' sein muß. Denn: wie an insgesamt 13 Schaubildern zur Anatomie und Physiologie der 'Geschlechtswerkzeuge' illustriert wird, ändert sich da im 'Alter' wenig, allein "die Erweiterung der inneren zwei Drittel der Vagina ist nicht mehr so stark" und die "Refraktärperiode dauert länger" (143; Illustrationen 141-145). Aber deswegen bräuchten Männer "mit fortschreitendem Alter - genau wie Frauen - ihre sexuellen Aktivitäten nicht aufgeben." (144) Als Ursache nachlassender Geschlechstverkehrsfrequenzen kommt für Howe somit nur noch das 'konturenscharfe Stereotyp' (137), die tradierte 'Sexualmoral' (153), in Frage. Sie zu überdenken, erscheint Howe "gerade angesichts des wachsenden Anteils der älteren Bevölkerungsgruppe sowohl für die heutige als auch für die zukünftige Altengeneration unaufschiebbar geworden zu sein" (153). Das Wissen, daß Penetrationen auch im 'Alter' machbar sind, sollte dafür auf breiter Ebene in die Bevölkerung getragen werden:
Damit befindet Jürgen Howe sich zwar im Trend der 'Altersbild'-Literatur, die sich seit einigen Jahren der 'Problematik Alterssexualität' vermehrt zuwendet und dabei typischerweise zu ähnlichen Schlußfolgerungen kommt, z.B.:
Originell aber ist, daß Howe nicht nur die schlimmen Auswirkungen des 'negativen Altersbildes' brandmarkt, sondern sich auch Gedanken über die Folgen seiner Beseitigung macht und dabei durchaus auch Gefahren einer sexuellen Befreiung der 'Alten' sieht: Diese nämlich könnten dann soviel Sex haben, daß sie darüber womöglich andere Anliegen vernachlässigen würden:
Die Erklärung mit dem 'Altersbild' scheint sich dabei so aufzudrängen, (Die Vorstellung, daß ein lange verheirates Ehepaar im Alter von 65 Jahren deswegen vom Geschlechtsverkehr abließe, weil das 'generalisierte Stereotyp' 'alten' Menschen keinen Sex zugesteht, scheint mir eher fernliegend...) daß andere Zusammenhänge nicht weiter erwogen werden. Selbst bei Verbleiben auf der biologistischen Ebene würde sich ein Nachdenken z.B. über eine zunehmende Arteriosklerose der Arteriae profundae penis lohnen. Die ausführliche Präsentation anatomischer Bilder der äußeren Geschlechtsorgane sollte zumindest ergänzt werden durch Abbildungen einzelner Gelenke oder der Skelettmuskulatur, die beim Geschlechtsverkehr ja auch 'beteiligt' sind. Schließlich drängt sich angesichts der imponierenden durchschnittlichen Gv-Frequenzen in den von Howe angeführten Statistiken der Gedanke auf, daß die konventionelle sexuelle Verkehrsform (Penetration) Paaren irgendwann schlicht zu langweilig und als Partnerschaftsbestätigung auch verzichtbar werden könnte. Gedanken, wie man bei einer reduzierten Erektilität des männlichen Gliedes mit Sexualität umgeht, erscheinen - es ist ja nur das 'Altersbild' zu ändern - ebenfalls unnötig. Der Verfasser führt eine Ärztin 'vor', die 1960 die Sorge äußert, daß Spätehen oft nur deshalb nicht zustande kommen, "'weil der angehende Ehemann fürchtet, seine Frau wünsche eheliche Beziehungen, denen er sich nicht mehr gewachsen fühlt' (...)": "Besser lassen sich die entsprechenden Stereotype nicht zusammenfassen." (Ebd.)
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